Durch die Erdrutsch-Hölle
Flutkatastrophe in Nepal. Bedingt durch den stärksten Regenfall seit über 54 Jahren kommt es am 28. September im Kathmandutal zu Überschwemmungen und Erdrutschen. Unser Vereinsmitglied Philipp Neuweiler war zu dieser Zeit im Land unterwegs und schildert die Erlebnisse seiner nepalesischen Freunde.
„Wir sind zu zwölft in unserem kleinen Bus. Plötzlich donnert es von draußen – ein gewaltiger Erdrutsch in unmittelbarer Nähe. Hilfeschreie von Menschen, die versuchen aus ihren Fahrzeugen zu entkommen. Als wir hinauseilen, sind bereits drei Busse in etwa hundert Meter Entfernung verschüttet und alle Insassen lebendig begraben. Nur noch das Blechdach von einem Minibus ist zu erkennen. Weitere Schlammlawinen bahnen sich an. Uns bleibt keine Zeit mehr. Wir müssen raus aus dieser Hölle!“
Es ist Samstag, der 28. September in Nepal. Nach zweieinhalb Tagen Dauerregen bricht die Infrastruktur des Landes zusammen. Ich selbst bin an diesem Tag glimpflich davongekommen, doch schildern mir meine nepalesischen Freunde, wie sie die Flutkatstrophe erlebt und vor allem überlebt haben. Aber von Vorne: Im September war ich (wie bereits im vorherigen Jahr) in der Annapurna Region im Himalaya unterwegs. Durch meine Theater-Passion habe ich Kontakt zu einem Ensemble namens
Shilpee in Kathmandu aufgenommen, woraus inzwischen enge Freundschaften erwachsen sind. Die Shilpee-Gruppe ist am 27. September aus Pokhara (Nepals zweitgrößte Stadt) mit einem Minibus Richtung Kathmandu aufgebrochen – das Ende ihrer Theater-Tournee in Westnepal. Die letzte Etappe auf dem Prithvi Highway ist nur 200 Kilometer lang, braucht jedoch aufgrund der maroden Straße im Regelfall etwa zehn holprige Fahrstunden. Für meine Freunde und hundert andere Reisende soll es an diesem Tag jedoch kein Durchkommen geben.
Zertrümmerte Fahrzeuge. Aufnahme vom 1. Okt 2024 von Juliane Schwoch.
Kurz vor Kathmandu bleiben sie im Stau stecken. Erdrutsche haben den Highway vor und hinter ihnen abgeschnitten, sodass alle die Nacht in ihren Fahrzeugen verbringen müssen. Später schildern sie mir: „Niemand hat ein Auge zugetan. Fenster müssen wegen des Dauerregens geschlossen bleiben. Draußen gewittert es und wir fürchten bei jedem Donnerschlag, es könnte ein weiterer Erdrutsch sein. Einer aus unserer Gruppe ist angeschlagen. Ihm setzt die Situation so zu, dass er Fieber bekommt. Auch unser Wagen versinkt immer tiefer im Schlamm. Natürlich haben wir den Notruf gewählt, die Polizei alarmiert – doch keine Rettungskräfte dringen zu uns durch.“
Buswracks nach der Flutkatastrophe im Kathmandutal. Aufnahme vom 1. Okt 2024 von Juliane Schwoch.
Am frühen Morgen müssen meine Freunde dann miterleben, wie die herabstürzenden Erdmassen drei Fahrzeuge verschlingen. Sie beschließen zu Fuß nach Kathmandu zu laufen – sich irgendwie einen Weg zu bahnen, durch die Schlammfluten hindurch. Weitere Reisende schließen sich ihnen an. Darunter auch Kinder und ältere, gebrechliche Menschen. „Wir haben uns alle gegenseitig geholfen, um aus dieser Hölle rauszukommen. Ein riskantes Unterfangen. Einmal zerteilt eine Schlammlawine unsere Menschen-Karawane. Wir müssen abwarten, bis die Sturzflut aufhört und schaffen es die beiden Gruppenhälften wieder zusammenzuführen. Als wir schließlich nach vier Stunden Kathmandu erreichen, sind wir den Tränen nahe. Wir haben es geschafft. – Wir sind endlich in Sicherheit!“
Was bleibt, sind zahlreiche Fragen: „Warum wurden die Highways nicht schon am Vortag gesperrt? Warum wurden nicht bereits in der Nacht Helikopter geschickt, um Menschen zu evakuieren? Unsere Regierung hat einfach geschlafen und abgewartet. Der Tod so vieler hätte verhindert werden können.“ Einmal mehr bekomme ich den Frust über die vielen korrupten Regierungsbeamten mit. Meine Freunde sind es leid, wie wenig die nepalesische Regierung unternimmt – zu wenig nach dem großen Erdbeben 2015, nach der Pandemie, nach dem Beben in Westnepal 2023.
30. Sept 2024 | Foto: Prakashchandra Timilsena | Kantipur
Die Geschichte des Shilpee-Ensembles ist nur eine von Tausenden. Im Kathmandutal sind in jener Nacht zahlreiche Siedlungen und Stadtteile überschwemmt worden. Den lokalen Nachrichten zufolge haben landesweit über 220 Menschen ihr Leben verloren – ein Großteil davon im Kathmandutal, da der Bagmati-Fluss über die Ufer getreten ist. In den Folgetagen evakuieren Rettungskräfte über neunhundert Einheimische und gestrandete Trekker:innen mit Helikoptern. Alle Highway-Zugänge zur Hauptstadt haben solche Schäden genommen, dass Kathmandu tagelang nur riskant zu Fuß oder über die Luft erreichbar ist.
Ich selbst bin am 28. September ebenfalls mit einem Bus auf dem Prithvi Highway unterwegs gewesen. Doch habe ich ungemeines Glück: Unser Bus bleibt bereits nach kurzer Fahrt im Stau stecken und kehrt nach fünf Stunden Warterei Richtung Pokhara zurück. Am Folgetag nehme ich und meine Reisebegleitung schließlich eine Propellermaschine nach Kathmandu. Alle Flüge zur Hauptstadt sind an diesem Tag vollständig ausgebucht.
In den Folgetagen zeichnet sich immer mehr das Ausmaß der Katastrophe ab: Der Shilpee-Fahrer ist nach drei Nächten zusammen mit hundert anderen befreit worden. Er schildert uns, wie die Rettungskräfte 35 Leichen aus dem getrockneten Schlamm geborgen haben. Ich sehe Fotos von Fahrzeugen, die von den Naturgewalten zerquetscht wurden.
30. Sept 2024 | Foto: Prakashchandra Timilsena | Kantipur
Es ist schwer in Worte zu fassen, wie froh ich bin, dass meine Freunde diesen Albtraum überlebt haben. Wir sprechen viel über die verschiedenen Ursachen der Katastrophe: Meteorologische Institute haben bereits im Vorfeld dreitägigen Dauerregen angekündigt. Dass es der stärkste Niederschlag in Nepal seit Beginn der Aufzeichnungen sein würde, hat niemand ahnen können. Fest steht jedoch: Es gab Warnungen für betroffene Gebiete, die von den meisten lokalen Börden und Reiseunternehmen nicht ernst genommen wurden. Rettungskräfte wurden viel zu spät mobilisiert. Der nepalesische Premierminister Sharma Oli war währenddessen auf einer Reise in den USA und glänzte durch Abwesenheit. Auch ist es aktuelles Politikum, dass Highways in Nepal sehr schnell und ohne Rücksicht auf die geologischen Bedingungen gebaut werden. Statt Nachhaltigkeit setzt die Regierung auf schnelle Bauweisen, wodurch Wasser schlechter abfließen kann und Erdrutsche begünstigt werden.
Überschwemmung in Kathmandu | 29. Sept 2024 | Foto: Kathmandu Post
Nun könnte man fragen: Was kümmern uns Deutsche die Entwicklungsprobleme anderer Länder? Nepals Impact auf die globale Erwärmung ist im Vergleich zu großen Industriestaaten wie Deutschland winzig. Trotzdem bekommen diese Länder die größte Quittung der Klimakrise zu spüren. Auf meiner Reise habe ich viele tote Gletscher gesehen. Monsunregen ist normal, allerdings nicht Ende September – da fällt solcher Dauerregen eindeutig unter die Kategorie Extremwetter. Ein Freund von mir aus Pokhara hat es schön auf den Punkt gebracht: „Am Ende sind wir doch alle Menschen. Wir wollen leben und überleben. Wäre es da nicht gerecht, wenn die Länder, die für Extremwetter-Ereignisse hauptverantwortlich sind, mehr Unterstützung anbieten für diejenigen, die am meisten darunter leiden werden? Gemeinsam könnten mehr Maßnahmen zur Nachhaltigkeit umgesetzt werden, die Menschenleben retten.“
Für mich persönlich ist es das erste Mal, dass ich einem Extremwetter-Ereignis so nahegekommen bin und ich rechne fest damit, es wird nicht das letzte Mal sein. Naturkatastrophen gehören in Nepal leider zum Alltag und ich fürchte, dass sich diese auch in Europa häufen werden, sofern wir nicht rechtzeitig die richtigen Maßnahmen ergreifen – sowohl politisch als auch in unseren Lebensweisen. Es gibt so viele kluge Lösungsansätze zur Nachhaltigkeit, die nur im größeren Stil umgesetzt werden müssen. Doch dies sind nur meine Gedanken, die von diesem 28. September nachhallen.
Philipp Neuweiler | 12. Okt 2024
Weiterführende Quellen